Aus dem Leben Ihrer Lieben lebendig erzählen

Beispielrede

Die folgende Rede ist ein Beispiel und nicht als Prototyp zu verstehen. Prototyp-Reden gibt's bei mir nicht.

Sie ist fiktiv und für einen kleinen familiären Kreis bestimmt, der die verstorbene Person sehr gut kennt. 

Der Kontext der Rede ist eine Seebestattung. Auch bei einer Seebestattung kann eine Trauerrede an Bord gehalten werden. Nach dem Absenken der Urne erklingt die Schiffsglocke und das Schiff zieht (mindestens) eine Ehrenrunde um den Beisetzungsort.

 

Im Grunde sitzen Sie falsch. Sie sollten im Rund sitzen, am Tisch, einem eingedeckten Tisch. Dem mit dem Tischtuch überzogen, das nie gebügelt wird, denn das wäre ja, als würde man ihm die Lebensadern verbrennen. Und das wäre furchtbar abscheulich (sagt Lise).

Hier sollte es nach Hausmannskost duften, die, wenn man mal ehrlich ist, eigentlich Hausfrauenkost heißen sollte, weil wir schließlich über Lise reden. 

Aber das tut es nicht. Der Duft fehlt, weil Lise fehlt. Heute sind wir es, die den Tisch eindecken. Lise zu Ehren. 

Wir spannen es aus, das Lebensadertuch aus Leinen. In Gedanken. Wir holen die bunten Römergläser aus der Vitrine im Wohnzimmer und die Untersetzer aus dem Eckschrank der Küche, auf dem die Kuckucksuhr regelmäßig die Stunde schlägt.  Man hört den Kuckuck aber eigentlich nie, weil er gegen Lises Lunge sowas von einstecken kann. 

Wir holen das Tafelsilber aus der Schublade. Es steckt noch immer im makellosen Schaumstoff, wenngleich der Karton selbst so aussieht, als durfte er das ein um andere Mal mitessen. Dann noch die Teller. Die sind im Küchenschrank. Es sind stinknormale Teller, weil das Essen so grandios sein wird, dass es die Banalität der Teller annulliert. 

Wortspielereien hat Lise gern.

Und dann fangen wir an, das Essen zu servieren; es gibt Sauerbraten mit Rotkohl und Salzkartoffeln. 

Lise hätte jetzt die Glocke rausgeholt und geläutet, damit alle im Haus Bescheid wissen: Essen ist fertig, zu Tisch bitte. 

Wir machen es heute andersherum. 

Wir probieren und erzählen. Da ist Salz, das wir schmecken, und vom Meer erzählt – von diesem Meer. Als kleines Mädchen lernt Lise in den 1940ern hier schwimmen. Es sind stürmische Zeiten – im Wasser und an Land. Aber Kinder haben wenig Sinn für Realismus – dafür aber umso mehr für Fantasie. 

Und in dieser Hinsicht ist Lise ein absolutes Vorzeigekind. Fantasie besitzt sie im Überfluss – und verquirlt sie mit fester Überzeugung. So ist sie etwa der Meinung, dass man der Gesundheit zuliebe mindestens einmal im Jahr in der Ostsee baden muss. Wenn man sie nach dem Warum fragt, hält sie es mit Walter Boehlich: „Die Antwort ist das Unglück der Frage“. Ha! Wenn man es nur im Frühjahr an die Ostsee schafft, dann ist das eben so. Dann nimmt man sich Tee mit, Ostfriesentee mit Sahne und Kluntje. Und schwimmt.

Er ist fett, der Braten. Fett wie die Nacktschnecken, die Lise sammelt und in ein Glas gibt. Die Schnecken sollen die von Mutter Lore gepflanzten Salate nicht anknabbern und bitte auch nicht vollsabbern. 

Aber als Lises Eltern überlegen, ihre kleine Schwester Nele in einem Montessori-Kindergarten anzumelden und Lise fragt, was das sei, und sie dann kinderfreundlich erklärt bekommt, dass das mit viel Freiheit für alle zu tun hat, hat sie dann doch Erbarmen mit den Schnecken. Und zwar so sehr, dass sie ihnen, da sie ja selbst kein Haus haben, ein Dach überm Kopf bietet.  Sie lässt sie in ihrem Zimmer frei – dem Zimmer, das sie mit ihrer älteren Schwester Therese teilt.  Bloß: Therese hasst Schnecken.

Als die kleinen Schleimer dann am Nachmittag zum Kuchentisch aufbrechen, ist Therese so entsetzt, dass sie ihre Kuchengabel reflexartig gen Lise wirft. Und ihren Arm trifft. Die Tränen der zwei weinenden Kinder sind schnell getrocknet, drei kleine Punkte an Lises Oberarm aber bleiben. Viel viel später wird Therese sich diese drei Punkte auf ihrem Arm tätowieren. 

Und Lise...Lise meidet fortan Gabeln und isst alles, was andere mit einer Gabel essen, mit einem Löffel. Und es sind sonderbar-kosmopolitische Variationen dabei: Nudeln mit süßsaurer Soße zum Beispiel oder Grießklößchen mit Sojasoße. Aber niemals Schnecken. 

Da ist die Süße des Rotkohls, die wir schmecken, und die vom Urlaub in Spanien erzählt – eine Jugendreise, auf der Lise ein bisschen erwachsen wird. Sie lernt Martín kennen. Eigentlich heißt Martín Martin, aber weil er ihr i-Tüpfelchen wird, soll das „I“ auch auffallen, findet Lise. 

Beide reisen nicht allein wieder zurück, sondern zusammen. Und auch nicht nur zu zweit, sondern mit einem Granatapfelbaum im Gepäck. Wie sie das geschafft haben, bleibt ihr Geheimnis. Der Baum steht noch immer im Vorgarten des Luftstraßenhauses, er blüht sehr verlässlich, aber Granatäpfel sind ihm nie gewachsen. 

Da ist Würze, die sich auf unsere Gaumen legt. Die Würze gelebter Jahre. Lise wird Zwillingsmutter und es erstaunt nicht, dass das erste Wort von Frieda und Simon „heiß“ ist, weil ihre Mutter sie ständig zur Vorsicht mahnt: „Der Herd ist heiß“, „Vorsicht, heiß!“

Eine Mikrowelle kommt ihr nicht ins Haus, weil die Bezeichnung und das Prinzip ihr gleichermaßen suspekt vorkommen.

Die Küche wird ihr Refugium – Lise liebt das Kochen und probiert immer wieder etwas Neues aus. Keine exotischen Experimente mit extravaganten Zutaten tun es ihr an, sondern eher raffinierte Abwandlungen des Bekannten – im Grunde geht sie vor, wie bei Martín. 

Die jungen i-Tüpfelchen Frieda und Simon werden in der Schule geschätzt für ihre Brotboxen und besonders die mit Schnittlauch gebundenen Schwarzbrotpäckchen.  

Bei Kindergeburtstagen wird über die Tortenkreationen gestaunt – die Schokoburg mit dem Baisergespenst oder die Bullerbü-Landschaft mit den roten Häuschen aus Esspapier und den Zimtwegen. 

Dass Martín zu jener Zeit als Tischler in einem Spielwarenladen arbeitet, ist für die Heranwachsenden eine perfekte materielle Nachspeise. 

Lise selbst hantiert bei der Arbeit nicht mit Köstlichkeiten, sondern mit Akten, Briefen und Dokumenten. Die Arbeit im Steuerbüro ist unaufgeregt und damit das Gegenstück zum Zuhause. Einmal fragt Simon sie, ob sie nicht mal „mehr“ machen möchte und Lise antwortet mit einer für sie eher untypischen Sanftheit: „Ihr seid mein Mehr“.

Martín, Lise, Frieda und Simon Leiser. So steht es am Türschild. Aber meistens sind hier viel mehr Menschen im Haus. Familie und Freunde kommen zu Besuch. Hier wird gegessen, gelacht und gespielt. Mal wird mit vollen Mägen und voller Freude auf dem von Martín gefertigten Spielbrett „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt, manchmal auch stundenlang „TAC“ – und danach wird eine Weile nicht miteinander geredet.

Von unserem Braten ist natürlich viel zu viel übriggeblieben. Haben alle Tupperdosen dabei? Zu den Leisers muss man immer Tupperdosen mitbringen – mindestens zwei. 

Die Nachspeise wird aufgetischt. Fruchtschlangen in verschiedenen Farben: Die roten sind aus Himbeeren mit etwas Minze, man darf sie nicht mit denen aus Roter Beete verwechseln, die Lise manchmal untermischt – und die eigentlich keiner mag außer ihr. Die gelben sind aus Mango mit einem Hauch Orange und die grünen aus Kiwi und Banane. 

Sie werden mitgenommen an die Ostsee, auf Wanderungen in den Harz oder Südfrankreich. Oder wenn man nur im Kopf reist und mit Freunden zusammen ins Kino geht. 

Sie werden verschenkt, wenn man Nele in München besucht oder zu Therese und Michael zum Kranzbinden eingeladen wird. Sie werden den Enkeln Riva und Rune zugesteckt, die die Beete-Schnüre von allen am besten von den Himbeerschnüren unterscheiden können. 

Sie stecken im Rucksack bei der Reise ins Allgäu, Busreise, wie damals, als Lise und Martín sich kennenlernten.  Damals fuhren sie einzeln hin und kamen zu zweit wieder zurück. Dieses Mal ist es andersherum. Martín erleidet einen Herzinfarkt. 

Ein Teller wird weiterhin für ihn aufgetischt – ein guter Teller. Es wird zu einem Selbstverständnis. Wenn Besuch da ist und den Tisch eindeckt, was mit der Zeit immer öfter passiert, wird dieser Teller immer mitgedacht, ohne Kommentar. 

Die Fruchtschlangen werden härter und nicht mehr so akkurat mit der Schere zerschnitten. Aber auch das wird nicht kommentiert, erst nicht.  Bis dann doch ein Kommentar sein muss. So kann es eigentlich nicht weitergehen. Aber eine Seniorenresidenz? Kommt für Lise nicht infrage. Essen auf Rädern auch nicht. Also wird sich aufgeteilt mit dem Kochen und Riva und Rune experimentieren mit eigenen Fruchtschlangenkreationen. 

Bis Lise aufbricht. Und jetzt für sie ein Teller mit aufgedeckt wird. 

 

Man nehme:

2 Tassen Entschlossenheit

1 Handvoll Geduld

3 Esslöffel Ehrlichkeit

1 Prise Humor (je nach Geschmack auch mal schwarzer)

½ Tasse Fantasie

1 Messerspitze Bescheidenheit

4 dicke Tropfen Eigensinn

2 Hände voll Herzlichkeit

Eine große Schöpfkelle Kreativität

Und ein Lachen – aus tiefstem Herzen 

 

Das ist das Lise-Rezept. Schwierigkeitsgrad: Im Grunde simpel. Aufwand: Mittel. Empfehlung: Unbedingt nachkochen! So oft wie möglich, für so viele wie möglich – angefangen bei einem selbst. 

Und wenn wir es richtig machen, wird es eine Delikatesse werden. 

Ihr Teller wird aufgedeckt, kein stinknormaler. Und Lise, Lise lassen wir treiben und lassen für sie die Glocken erklingen, dreimal, damit es alle hören. 

Lebe hoch, Lise Leiser, und lebe wohl!

 

Ob die Anwesenden, nachdem die Urne in das Wasser gelassen wurde, auch in die Ostsee springen, weil man das ja so macht, einmal im Jahr, oder ob stattdessen oder währenddessen das Lied „Für Einen“ von Dota Kehr gespielt wird, ist Ihrer Fantasie überlassen.

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